A. Kraus u.a. (Hrsg.): Zeitgenössische Kunst fördern und vermitteln

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Titel
Zeitgenössische Kunst fördern und vermitteln. Neugründungen von Kunstvereinen in der Bundesrepublik nach 1945/49


Herausgeber
Kraus, Alexander; Lorke, Christoph
Reihe
Texte zur Geschichte Wolfsburgs
Erschienen
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 14,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jutta Braun, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die 300 Kunstvereine mit circa 100.000 Mitgliedern in Deutschland bilden heute „das bürgerschaftliche Rückgrat der Gegenwartskunst“, wie die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Kunstvereine hervorhebt.1 Trotz ihrer gesellschaftlichen Präsenz ist die Geschichte der Vereine, die zum Teil bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückreicht, selten geschrieben worden.2 Das gilt vor allem für die Zeit des Nationalsozialismus, in der auch die Kunstvereine „gleichgeschaltet“ wurden beziehungsweise sich selbst gleichschalteten, ihre jüdischen Mitglieder ausschlossen und sich an der Diffamierung sogenannter „entarteter Kunst“ beteiligten. Als ältester Kunstverein Deutschlands (seit 1792) ist es immerhin der Nürnberger, der hier mit einer gründlichen Aufarbeitung beispielhaft vorangeht.3 Da die „Zeitgeschichte des Kunstbetriebs“ seit einiger Zeit ein „Emerging Field“ darstellt, geraten Kunstvereine als Bausteine der Zivilgesellschaft zudem verstärkt in den Fokus zeithistorischer Studien zur Bundesrepublik.

Der vorliegende Sammelband, herausgegeben von Alexander Kraus und Christoph Lorke, nimmt sich hierbei einen spezifischen Vereinstyp vor: Im Mittelpunkt stehen nicht die Traditionsvereine der Großstädte, in denen das Bürgertum soziale Distinktion und Kunstverstand kultivierte, sondern sechs Neugründungen in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. In den Industriestädten Leverkusen, Wolfsburg, Bochum, Gelsenkirchen, Unna und Gütersloh versuchten die Kunstvereine seit Ende der 1950er- und zu Beginn der 1960er-Jahre eine neue kulturelle Infrastruktur zu schaffen. Die Herausgeber wollen diese Vereinsgründungen sowie die Geschichte ihrer Etablierung als „Gradmesser bundesdeutscher Selbstverständigungsprozesse“ (S. 15) und ihrer Aneignung auf der regionalen und lokalen Ebene verstanden wissen.

Die Einzelbeiträge sind hervorgegangen aus einer Forschungsübung im Wintersemester 2020/21 am Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Die Texte sind durchweg erkenntnis- und abwechslungsreich, auch unterhaltsam, selbst wenn nicht alle mit der gleichen Stringenz erarbeitet sind. Besonders hervorzuheben ist, dass sich die Autor:innen – ganz im Geiste der Mühen der Ebene, in der sich die von ihnen beschriebenen Kunstvereins-Pioniere anfangs bewegten – in die Details von Satzungen, den Streit um Räumlichkeiten und die lokale Pressebegleitung vertieft haben, um ein empirisch dichtes Mosaik der Dynamik lokaler Zivilgesellschaft zusammenzusetzen. Da sich zumeist zwei Beiträge einem Verein widmen, entstehen zwar leichte Redundanzen, für die man jedoch mit der Erweiterung der Perspektive entschädigt wird.

Die Umstände der Neugründungen ähnelten sich: In den wirtschaftlich prosperierenden Städten, deren Einwohnerzahl sprunghaft anstieg, gähnte meist noch eine kulturelle Leere, die es zu füllen galt. Die Kunstvereine traten hierbei mit der Intention an, zeitgenössische Kunst zu fördern und zu vermitteln – mit Ausstellungen, Vorträgen oder Kulturausflügen. Hierzu gehörte auch die Rehabilitation der einst verfemten Teile der künstlerischen Moderne. In dieser Hinsicht verweisen mehrere Beiträge auf die grundlegenden Analysen des Kunsthistorikers Walter Grasskamp. Er hat das Verhältnis von Kunst und Demokratie in seinen Studien derart luzide ausgemessen, dass seine Diagnosen bis heute Interpretationen und Formulierungen der Forschung prägen, wie auch im vorliegenden Band4: Die bundesdeutsche Öffentlichkeit musste „nachsitzen“, um den Anschluss an die Moderne wiederzufinden, lokale Vereine wurden hierbei zu „Dolmetschinstituten“, die das Verständnis für sperrige Kunstformen entwickeln halfen, und lokale Subventionen für Vereine spiegelten eine „Kulturpolitik des schlechten Gewissens“ (S. 21, S. 224, S. 56).

Allerdings ist auffällig, dass die Autor:innen zum Aspekt der „Vergangenheitsbewältigung“ kaum fündig geworden sind. Das erklärt sich zum einen aus der Sache selbst, da Vereins-Neugründungen keine institutionelle Geschichte im Nationalsozialismus aufzuarbeiten hatten. Doch scheint auch dort, wo der Schatten der „Gleichschaltung“ nach 1933 relevant war – wie in Bochum, dessen Kunstverein aus dem Jahr 1921 datierte und 1962 neugegründet wurde – die Beschäftigung mit der eigenen Vereinsgeschichte weitgehend ausgeblieben zu sein. Andernorts fehlte ein Blick zurück ebenfalls; so fand die „Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und ihren Auswirkungen auf Kunst und Kultur im Leverkusener Kunstverein erst in den 1990er Jahren statt“ (Yasmin Dagili, S. 32). Somit bestätigen die Forschungen des Bandes den zeitgenössischen Eindruck der Kunstkritikerin Anna Klapheck, die Kunstvereine hätten sich in ihrer Arbeit bewusst von der historischen Katastrophe abgewendet.5

Das Narrativ des Bandes ist deshalb auch weniger die Frage nach der „Aufarbeitung der Vergangenheit“, sondern eine institutions- und mentalitätsgeschichtliche Rekonstruktion, wie sich wohlmeinende, von Bürgersinn getragene kulturelle „Start-Ups“ in einem hierauf wenig vorbereiteten städtischen Umfeld zu etablieren wussten: „Wozu überhaupt ein Kunstverein?“ – diese provokante Frage der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ aus dem Jahr 1969 (zit. nach S. 222) stand stellvertretend für die Barrieren, denen sich die Engagierten gegenübersahen. Die Aktiven hatten hierbei ein „Slalomfahren“ (Sarah Golka, S. 204) zu bewältigen: vor allem zwischen der Erwartung, lokales Kunstschaffen zu unterstützen, und dem Wunsch, auch die internationale Avantgarde abzubilden. In langen Nächten wurde mitunter über das Profil und die Zukunft der Vereine debattiert.

Ein existenzielles Thema war dabei der Kampf ums Geld. Hierbei gelingt es den Autor:innen des Bandes zum einen, die enge Verschränkung von Vereinswesen und Kommunalpolitik nachzuzeichnen, die zeitgenössisch durchaus problematisiert wurde. Zum anderen verdeutlicht das Fallbeispiel Gütersloh übergreifende Trends der Kulturförderung: von anfänglichen Spenden wohlhabender Privatpersonen hin zu – seit den 1970er-Jahren – einem Sponsoring durch Firmen sowie vor allem Banken und Sparkassen, die ihre Räume und Finanzen nutzten, um die eigene Präsenz vor Ort kulturell zu veredeln. Damit ging eine Intentions-Verschiebung des Mäzenatentums einher: Nicht mehr die Förderung der Kunst und die kulturelle Bildung zum Wohl der Allgemeinheit, sondern der „Imagetransfer“ und die „Imagepflege“ des eigenen Unternehmens waren für die Stifter und Sponsoren maßgeblich.

Überhaupt ist bemerkenswert, wie weit die von Kraus und Lorke konstatierte „Wiederauflage und Tradierung lokaler künstlerischer Patronage“ (S. 13) im Mikrokosmos der einzelnen Standorte reichte: So war Wolfsburg auch kulturell von der „Werksdominanz“ der Firma Volkswagen geprägt, die in den 1960er-Jahren acht große Kunstausstellungen mit Exponaten von Picasso bis Van Gogh realisierte. Dies passte in die Selbstdarstellung eines zukunftsorientierten Gemeinwesens, einer modernen, weltgewandten „Autostadt“ – ohne jede Reflexion, welche Rolle die erst 1938 gegründete „Stadt des KdF-Wagens“ in Hitlers Rüstungsproduktion gespielt hatte. Auch in der Leverkusener Kunstszene spielten die Bayer-Werke, Nachfolger der I.G. Farben, eine tragende Rolle – mit eigener Werksgalerie. Inwieweit dieses Engagement auch als ein gezielter gesellschaftlicher „Ablasshandel“ für vergangene Beteiligung an der NS-Herrschaft gelesen werden kann, wird im Band nicht untersucht, könnte aber eine weiterführende Frage sein – auch mit Blick auf andere industrielle Kunstmäzene in der Bundesrepublik.

Zuweilen offenbaren sich bemerkenswerte Parallelen, so zwischen den Standorten Bochum und Gelsenkirchen: In beiden Fällen wirkte das neu eröffnete Schauspielhaus beziehungsweise Stadttheater als Quelle der Inspiration oder sogar als kooperierende Ausstellungsfläche. Und beide Kunstvereine widmeten sich beharrlich dem künstlerischen Schaffen in Osteuropa. Auch hier wäre es lohnend, näher zu untersuchen, inwieweit der „Schmelztiegel Ruhrgebiet“ manch aufgeschlossene Herangehensweise im grenz- und blockübergreifenden Austausch ermöglichte, die andernorts unmöglich schien.

Der Band zeigt zudem, dass der Erfolg der Vereine häufig der Unermüdlichkeit von Einzelkämpfern geschuldet war – in der Regel offenbar Männer. Die Unterrepräsentanz von Frauen als Kunstvereinsvorstände, aber auch als Künstlerinnen scheint an verschiedenen Stellen der Studien auf. Dies ist ein Bild, das sich auch nicht dadurch ändert, dass beim Mäzenatentum die Vorstände von Bertelsmann und Miele „gemeinsam mit ihren Frauen“, so hielt es ein Begleitbrief zur Gründungsversammlung eines Kunstvereins fest (Meike Becker, S. 244), künstlerische Anliegen vertraten.

Facettenreich wird das Wirken des Realschullehrers Dieter Lohl geschildert, der maßgeblich den 1968 gegründeten Kunstverein Unna zu einem Erfolgsmodell machte. Doch auch hier haderte man mit dem Spannungsfeld aus provinziellem Standort und internationaler Ambition. Dass schließlich Museen aus New York und Basel in Ausstellungen des Unnaer Vereins einkauften, hatte seinen Preis, denn nun war man zwar ein „Kunstverein in der, aber nicht für die Provinz“ (Sarah Golka, S. 214, dortige Hervorhebungen).

Ein weiteres – häufig uneingelöstes – Anliegen der Vereine war es, mit dem eigenen Wirken ein breiteres Publikum und alle Schichten zu erreichen. Es ist eine gute Idee, Fotografien aus der Lokalpresse als Quellen zu nutzen, um zu zeigen, wie Besucher:innen „im Sonntagsstaat“ (Sabeth Medea Lücke, S. 219) bei Eröffnungen die Kunst andächtig betrachteten und damit den überkommenen Habitus des eingeweihten Bürgertums pflegten. Dieter Lohl hingegen, der bei angeregten Diskussionen im Kunstverein demonstrativ die Pils-Flasche herumreichte, glückte immerhin etwas, woran viele sonst scheiterten und was zur Krise der Kunstvereine seit Ende der 1970er-Jahre beitrug: die Nachwuchsgewinnung.

Ein anderes wichtiges Ziel, die sozialstrukturelle Öffnung hin zur Arbeiterschaft, wurde jedoch auch in Unna nicht erreicht. Dass dies ein generelles Manko war, ist ebenso der Autobiografie des Kunsthändlers Rudolf Zwirner zu entnehmen, der um 1960 mit Sonntagsöffnungen seiner Galerie in Essen versuchte, die Industriearbeiter und ihre Familien zu gewinnen – nur um vergeblich auf die Zielgruppe zu warten.6 Dieter Lohl kommentierte 1974 selbstkritisch, wie selbstreferentiell kunstaffine Kreise trotz allem Engagements blieben: „Und nun haben wir so viel Land gewonnen, und unsere Inseln sind doch zu klein […]. Geben wir doch zu, daß wir elitäre Clubs bilden, auch wenn wirʼs gar nicht wollen. Ist doch fein, wenn wir bei der nächsten Eröffnung alle wiedersehen, gell?“ (zit. nach S. 242)

Der Sammelband bietet erhellende, zu weiteren Forschungen anregende Einblicke in ein Stück vergessene Gesellschaftsgeschichte, bei dem sich das zeigt, was zum Selbstbild der alten Bundesrepublik gehörte: mündige Bürger:innen, die sich mit Energie und Beharrlichkeit der Bildung und Förderung ihres Umfelds verschrieben – und hierfür auch als Pioniere in unwegsamem, da spießigem Gelände vorangingen. Oder wie es der im Band mehrfach zitierte Kunstwissenschaftler und ehemalige Leiter des Kulturressorts beim „Vorwärts“ Lothar Romain ausdrückte: „Provinz ist da, wo man sie zuläßt.“7

Anmerkungen:
1 Siehe https://kunstvereine.de/de/kunstvereine (13.03.2024).
2 Als ein Standardwerk siehe Thomas Schmitz, Die deutschen Kunstvereine im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Kultur-, Konsum- und Sozialgeschichte der bildenden Kunst im bürgerlichen Zeitalter, Neuried 2001.
3 Vgl. den Vortrag des Nürnberger Kunstvereins-Vorsitzenden Wolfgang Brauneis im Rahmen der Konferenz „Kunst und Kultur nach dem Nationalsozialismus“ am 13. März 2023 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, https://www.youtube.com/watch?v=6aYFB7vr71A (13.03.2024), ab 4:29:25.
4 Vgl. stellvertretend Walter Grasskamp, Die unbewältigte Moderne. Kunst und Öffentlichkeit, München 1989, 2. Aufl. 1994.
5 Vom Notbehelf zur Wohlstandskunst. Kunst im Rheinland der Nachkriegszeit erlebt und aufgezeichnet von Anna Klapheck, Köln 1979, S. 228.
6 Rudolf Zwirner, Ich wollte immer Gegenwart. Autobiografie. Aufgeschrieben von Nicola Kuhn, Köln 2019.
7 Lothar Romain, Provinz ist da, wo man sie zuläßt. Zur Geschichte des deutschen Kunstvereins, in: KunstLandschaft BundesRepublik. Geschichte, Regionen, Materialien, Stuttgart 1984, S. 11–37.